Die Atomkatastrophe von Tschernobyl jährt sich erneut. Und während der ukrainische Reaktor im Zuge des russischen Angriffskrieges erneut beängstigende Schlagzeilen macht, mehren sich in Europa die Stimmen, die Atomkraft als Weg in die Unabhängigkeit von russischen Energieimporten sehen. Das aber wäre ein mehrfacher Irrweg – auch mit sehr konkretem Schaden für die Energiewende wie aktuell das Beispiel Frankreich zeigt, meint Sönke Tangermann, Vorstand bei der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy.
Von Sönke Tangermann
Dass sich bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich das bürgerlich-demokratische Lager – wenn auch knapp – behauptet hat, ist angesichts der politischen Alternative ein gutes Signal. Allerdings eines mit energiepolitisch schalem Beigeschmack. Denn viele Franzosen dürften beim Urnengang auch Emmanuel Macrons deutliches Bekenntnis zur Atomkraft mitgewählt haben. Laufzeitverlängerungen auf über 50 Jahre sowie AKW-Neubauprojekte sollen das Land auf „klimafreundlichen“ Energiekurs bringen und unabhängiger machen von Öl- oder Gasimporten.
Dass Macron im Wahlkampf angekündigt hatte, zugleich stark auf den Ausbau erneuerbarer Energien und auf Umweltschutz zu setzen, scheint für seine Wählerinnen und Wähler dabei kein Widerspruch zu sein. Auch in Deutschland zeigten Umfragen, dass aktuell Mehrheiten in der Bevölkerung einerseits eine konsequente Energiewende einfordern, sich aber gleichzeitig – angesichts des Ukraine-Kriegs – vorstellen können, die für Ende 2022 vorgesehene Abschaltung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke noch etwas hinauszuzögern.
Atomkraft und Erneuerbare passen nicht zusammen
Fakt ist aber: Beides passt nicht zusammen! Atomkraft und Erneuerbare sind schlicht nicht kompatibel zueinander. Atomkraftwerke mit ihrer starren Fahrweise sind zu inflexibel für die Philosophie eines auf Wind und Sonne basierenden Stromsystems, das wetterbedingt fluktuierend und dezentral organisiert ist. Mehr noch: AKWs bremsen die Energiewende aus – und drücken, bildlich gesprochen, große Mengen sauberen Ökostrom aus dem Netz. Denn trotz offiziell geltenden „Einspeisevorrangs“ sind es Ökostromkraftwerke, die als erstes von den Netzbetreibern abgeregelt werden, wenn zu manchen Zeiten mehr Stromangebot da ist, als das Netz physisch aufnehmen kann. Atommeiler hingegen können in Zeiten von Strom-Überangebot maximal auf 80 Prozent ihrer Leistung heruntergefahren werden. Das Berliner Analyseinstitut Energy Brainpool hat für uns in einer Studie stundenscharf berechnet, wie sich französische Laufzeitverlängerungen auf die Ökostromproduktion in Frankreich sowie in den beiden Nachbarländern Spanien und Deutschland auswirken würde.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Im untersuchten Zieljahr 2030 müssten demnach allein in Deutschland, Frankreich und Spanien mehr als 2.160 Gigawattstunden Wind- und Sonnenstrom zusätzlich „weggeworfen“ werden. Das entspricht einer Ökostrom-Menge, mit der man mehr als 617.000 Durchschnitts-Haushalte ein ganzes Jahr lang versorgen könnte. Die Summe des insgesamt abgeregelten Erneuerbaren-Stroms würde damit um zwölf Prozent anwachsen: Jeweils 780 GWh würden in Frankreich und Spanien aus dem Netz verdrängt, 586 GWh wären es in Deutschland. Der ermittelte Schaden für die europäische Energiewende wäre noch höher, wenn man weitere EU-Staaten und Laufzeitverlängerungen – etwa in Belgien – betrachten und mitmodellieren würde.
Auch der Marktwert des Ökostroms verringert sich durch mehr Atomenergie im EU-Netz – und das wiederum macht es unattraktiver, in Erneuerbare zu investieren. Und die für das Gelingen der Energiewende unverzichtbaren Flexibilitäts-Optionen wie Speicher oder Wasserstoffanlagen wären weniger wirtschaftlich. Die Folge: Der Staat müsste diese negativen Effekte mit mehr Förderung kompensieren. Die gesellschaftlich gewollte Energiewende würde teurer und langsamer werden, um alte Atomkraftwerke am Leben zu halten. Ganz zu schweigen von den exorbitanten gesellschaftlichen Kosten, die AKW-Neubauprojekte verursachen würden: Diese liegen deutlich über den Ausgaben für erneuerbare Alternativen – übrigens inklusive nötiger Flexibilitäts-Optionen wie einer Wasserstoff-Infrastruktur, die man zum Ausgleich von Schwankungen benötigt.
AKWs werden in Konfliktzeiten ein immer größeres Risiko
Gegen die Weiternutzung der Atomenergie spricht noch ein weiterer heikler Aspekt, den uns der russische Überfall auf die Ukraine dramatisch vor Augen geführt hat: Jedes Atomkraftwerk ist schon in Friedenszeiten ein steter Risikofaktor – in Konflikten werden die AKWs zu akuten Bedrohungen, ja sogar zu militärischen Zielen und „Geiseln“. 36 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ist die Lage in diesem (und anderen ukrainischen Meilern) prekärer denn je, nicht zuletzt die zuständige Atomorganisation IAEA macht sich Sorgen. Auch in der EU und Deutschland sind Hackerangriffe und physische Terrorattacken auf die Energieinfrastruktur – und damit auch auf AKWs – kein Fantasie-Szenario mehr, sondern leider eine reale Bedrohung. Wer längere Laufzeiten, neue Meiler oder gar viele, dezentrale Kleinst-Reaktoren plant, muss diese Anlagen auch gegen derartige Bedrohungen schützen. Doch das wäre quasi unmöglich.
Es kann nicht überraschen, dass die Atomindustrie und ihre Lobbyisten angesichts des Siegeszugs der Erneuerbaren derzeit nach jedem Strohhalm greifen, um ihrem überalterten, unwirtschaftlichen und risikobehafteten Technologie-Dinosaurier lebensverlängernde Maßnahmen angedeihen zu lassen. Kaum ein Etikettenschwindel erscheint dabei zu dreist: Der Atomkraft das Taxonomie-Etikett „nachhaltig“ zu verleihen, wie die EU-Kommission dies – vor allem aufgrund politischen Drucks aus Frankreich hin – auf den Weg gebracht hat, ist angesichts von ungelöster Atommüll-Endlagerfrage und Strahlungsrisiken ohnehin ein Skandal. Mit der erwiesenen Verdrängung sauberer Erneuerbarer durch Atomstrom wird diese Greenwashing-Farce noch absurder. Umso wichtiger, dass das EU-Parlament gegen das Nachhaltigkeitslabel noch ein Veto einlegt.
Ebenso falsch ist es, in der Atomkraft eine Art Heilsbringer für eine schnelle Energie-Unabhängigkeit zu sehen: Ein sehr großer Teil des in die EU importierten Urans stammt nämlich aus Putins Reich – vor allem in Osteuropa. Wer für Atomkraft in Europa plädiert, der lässt zu, dass hier alte und neue Abhängigkeiten zementiert werden. Wie weit das auch politisch führt, sehen wir am Beispiel Ungarns, das aktuell einen Kuschelkurs Richtung Russland fährt. Nicht zuletzt wohl, weil es seine Energieversorgung auf das Atomkraftwerk Paks stützt, das mit russischer Beteiligung ausgebaut wird.
Uran-Importe aus Russland zementieren Abhängigkeiten
Das alles zeigt: Atomkraft macht uns keinen Deut unabhängiger; sie ist alles andere als nachhaltig; sie ist das Gegenteil von „Friedensenergie“ – nämlich immer auch ein militärischer Faktor und damit ein stetig wachsendes Sicherheitsrisiko. Zudem ist jedes Atomkraftwerk ein grenzübergreifender Bremsklotz für die deutsche und europäische Energiewende. Und wer seine Energieversorgung weiter zentralistisch auf Atomkraftwerke stützt, der ist auch in Zukunft anfälliger für externe und interne Störungen als mit einem breiten, in der Fläche verteilten Mix aus dezentralen Erneuerbaren und flexiblen Speichern. Gerade Frankreich mit seinem überalterten und unzuverlässigen AKW-Park ist in den vergangenen Monaten wiederholt an Versorgungsengpässen bei der Stromversorgung vorbeigeschrammt.
Die unbestreitbare „Zeitenwende“, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auch für die europäische Energielandschaft mit sich bringt, darf aus all diesen Gründen nicht dazu führen, aus politischem Aktionismus und unter offensichtlichem Lobby-Einfluss zurück in die konventionelle Vergangenheit zu flüchten, in die Atomkraft. Diesen Irrweg gilt es in Europa vehement zu verhindern, nicht nur an einem Jahrestag wie heute. Auch die deutsche Bundesregierung muss stärker als bisher für die Abkehr von der Atomkraft eintreten, und auch klar gegenüber unseren Nachbarn dafür werben und Druck zu machen – allen voran beim wiedergewählten französischen Präsidenten.
Dieser Beitrag erschien am 26.4.2022 zuerst bei Tagesspiegel Background.